Elaine ohne Kind

Über den Abschied vom Kinderwunsch und das Leben danach

Sonntag

12

März 2017

Der Kult der Mutterschaft

von Elaine, über Gesellschaft, Tabu, Ungewollte Kinderlosigkeit

Heute philosophieren wir hier ein bisschen und machen uns ein paar - vielleicht etwas abstrakte - Gedanken über die Rolle der Mutterschaft in unserer Gesellschaft. Dieser Artikel von “Different Shores” war der Auslöser dafür, dass ich mich nochmals mit diesem Thema auseinandersetze. Zuletzt tat ich dies vor eineinhalb Jahren zusammen mit meiner Psychologin.

Achtung, was hier kommt, ist vielleicht nicht für alle gleich angenehm zu lesen - manches fordert ganz schön heraus oder provoziert ein wenig. Das soll und darf es auch, denn mein Ziel ist, zum Denken anzuregen. Und dazu braucht es manchmal einen kleinen Schubser. Wie immer ist das, was ich hier schreibe, keine absolute Wahrheit. Es sind Gedanken und Wahrnehmungen oder Aspekte unserer Gesellschaft, vielleicht ein bisschen stärker in Schwarz und Weiss dargestellt, als sie es in Wirklichkeit sind. Also: seid Ihr bereit?

Ist Euch auch schon aufgefallen, dass man das Ideal der Mutterschaft auf KEINEN Fall anzweifeln darf? Mutterschaft ist über alle Zweifel erhaben. Sie gilt als selbstlos. Sie ist heldenhaft. Das Beste, was eine Frau tun kann. Die Erfüllung ihrer Bestimmung. Etwas Vergleichliches gibt es nicht. Eine Mutter nimmt jegliche Opfer in Kauf. Denn es lohnt sich. Immer und auf jeden Fall. Ist es nicht das, was einem vermittelt wird? Aber - ist dies wirklich so? Mal abgesehen von der Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, die sie wohl diese Dinge sagen lässt? Sind wirklich alle Frauen - ohne wenn und aber - dazu geschaffen, Mutter zu sein? Und wie selbstlos sind wir überhaupt, wenn wir Kinder wollen? “Different Shores” zitiert unter anderem Andrew G Marshall, einen Therapeuten und Autoren, und ich übersetze das gerne für Euch:

Ursprünglich war es Gott, der uns vor uns selbst retten sollte. Dann war es die Liebe, und heute sind es die Kinder. Das ist ein Resultat der Scheidungsära. Vorher konnten wir glauben, dass das Sich-Verlieben gleichzusetzen sei mit “und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende”. Nun haben wir den Mythos der ewigen Liebe getestet und einen Ersatz dafür gefunden: die lebenslange Liebe eines Kindes, die uns Glück, Sicherheit und Erfolg bringen soll.

Wow. Was für ein krasser und auch etwas provokativer Gedanke! Aber vielleicht, wenn ich ganz ehrlich bin, nur vielleicht, liegt Marshall damit nicht mal so falsch, oder was meint Ihr? Zum Teil ist mir ja schon auch der Gedanke gekommen, dass manche Eltern ein wenig zu sehr für und durch ihre Kinder leben. Ist das nicht ein riesiger Druck auf einem Kind? Ich rede hier überhaupt nicht von Rabeneltern, sondern von mir lieben und wertvollen Menschen! Das könnte gerade so gut ich selbst sein; ich weiss ja nicht, zu welcher Mutter ich geworden wäre…? Denn habe ich mir nicht auch selbst von der Mutterschaft einen gewissen Lebenssinn erhofft?

Ich wurde dadurch noch an etwas anderes erinnert. An etwas, was mir meine Psychologin damals gesagt hatte. Es betrifft die aktuelle “Zelebrierung” von Schwanger- und Mutterschaft. Ist Euch diese auch schon begegnet?

Ich gehe ein bisschen zurück in der Zeit. Ich bin in einem Dorf auf dem Land aufgewachsen. Manche meiner Schulkameraden hatten über ein Dutzend Onkel und Tanten. Und zwar nicht, weil sie aus einer Patchworkfamilie stammten! Ne, denn es gab Zeiten, in denen es völlig normal war, wenn eine Familie aus 15 Kindern bestand. Ein bisschen anders als heute, oder? Sicher gab es sehr, sehr viel Arbeit, bergeweise Wäsche (und das in einer Zeit, in der Waschmaschinen erst gerade aufkamen), die älteren Kinder mussten garantiert überall mithelfen. Die Kinder fanden ihre Identität vermutlich eher im Kollektiv als in der Individualität, und ganz bestimmt war da keine Zeit (und auch kein Geld) für stilvolle Schwangerschaftsfotos oder Gipsabdrücke vom Babybauch! Ich sage jetzt nicht, dass ich mir diese Zeit zurückwünsche, überhaupt nicht! Mutter-Sein war damals harte Arbeit. Das forderte alles. Es fordert auch heute noch sehr viel von einer Frau, aber damals war das Mutter-Werden noch eine Spur riskanter als heute. Vielleicht wurden ursprünglich 18 Kinder geboren, aber drei starben, als sie noch klein waren. An Kinderkrankheiten, gegen die es damals noch keine Impfungen gab. Eine Frau brachte fast jedes Jahr ein Kind auf die Welt. Die Pille gab es da ja noch nicht. Und vielleicht überstand sie eine der Geburten auch selber nicht. In diesem Zusammenhang ist verständlich, dass die Mutter Maria in der katholischen Kirche zu einer Identifikationsfigur geworden ist. Und dass man den Muttertag feierte, um der Mutter wenigstens einmal im Jahr danke zu sagen für ihre viele Arbeit. Das war aber damals sicher noch eine recht bescheidene Angelegenheit, vielleicht mit selbst gepflückten Blümchen von der Wiese.

Heute werden die Kinder sorgfältig geplant. Wenn man kann, baut man ein hübsches Häuschen, richtet sich finanziell sicher ein, und dann - wenn alles perfekt ist - kommen die Kinder. Im Idealfall. Man hat das von langer Hand geplant, sich vielleicht schon lange darauf gefreut, und ENDLICH ist es soweit. Da man vielleicht nur zwei Kinder haben wird, ist jede Schwangerschaft und jedes Kind etwas sehr, sehr besonderes. Und das wird gefeiert. Dieser Aspekt der Weiblichkeit wird zelebriert. Darüber freuen sich Fotografen und die Hersteller von Babyzubehör natürlich auch ;-).

Meine Psychologin erwähnte damals einen weiteren Punkt: früher erlernten Frauen ja in der Regel keinen Beruf. Also war das Kinder-Aufziehen ihre Aufgabe. Ihr “Job” sozusagen, neben dem ganzen Haushalt, der damals - ohne die vielen technischen Hilfsmittel, über die wir heute verfügen - wohl körperlich noch anstrengender zu bewältigen war. Nicht gerade glamourös, oder?

Heute möchten viele Frauen auch nach der Geburt ihres Kindes weiter auf ihrem Beruf arbeiten (das hätte ich übrigens auch so gewollt;-)). Möglicherweise haben sie viele Jahre in ihre Ausbildung investiert. Sie wünschen es sich, auch geistig herausgefordert zu sein und möchten beruflich einen Fuss in der Tür halten. Die Kinder werden also zu einem von vielen Jonglierbällen, die es in der Luft zu halten gilt, nebst Ehe, Arbeit, Sozialleben, persönlicher Fitness und allem anderen. Die Anforderungen an berufstätige Mütter sind enorm. Denn wir haben wohl Gleichberechtigung in der Ausbildung. Aber im Alltag ist es laut aktuellen Studien immer noch so, dass die Frau die Hauptlast des Haushalts trägt!

Durch die Berufstätigkeit sieht man die Kinder seltener als es vermutlich unsere Mütter noch taten. Und so wird die Zeit mit den Kindern zu etwas Wertvollem. Man möchte etwas Besonderes daraus machen. Man geht in den Zoo, statt nur beim Sandkasten zu sitzen. Zum fünften Geburtstag geht es mit dem Kind in den Zirkus Knie. Wenn man nicht in den Zirkus geht, dann braucht es eine Mottoparty mit einem aufwändigen “Sweet Table”, von A bis Z durchkomponiert und wunderschön präsentiert. Und so geht das immer weiter. Die Feste werden stärker zelebriert als früher, vielleicht als Kompensation dafür, dass man als Mama nicht so viel daheim ist. Und vielleicht auch, um dem Kind seine Wertschätzung zu zeigen. Oder um mit den anderen Müttern mithalten zu können. Vielleicht - bei ein paar wenigen - auch, weil sie schlicht so gerne Cupcakes verzieren und sich Farbschemas ausdenken. Das soll es schliesslich auch geben ;-).

Was geschieht am Ende? In den sozialen Medien sieht man dann all die zelebrierten Momente. Man sieht nicht das schreiende und sich am Boden wälzende Kind vor der Supermarktkasse. Auch nicht die Mutter, die gestresst von der Arbeit nach Hause kommt und sich mit einem müden, heulenden Kind konfrontiert sieht. Man nimmt nur das wahr, was auch gerne gezeigt wird: das Ideal-Bild. Oder sogar das Über-Verschönerte. Versteht Ihr, was ich damit meine? Und eventuell ist es nicht nur das, was uns gezeigt wird, sondern dazu auch noch das, was wir sehen und hören MÖCHTEN. Weil das Schöne nun mal angenehmer anzusehen ist als die mühsamen Momente. Schon mal überlegt?

Meine Psychologin sagte mir: je weniger gewisse Werte in einem Bereich der Gesellschaft konkret gelebt werden, desto mehr wird dieser Bereich im Gegenzug zelebriert. Interessant, nicht? So zum Beispiel auch in der Ehe: diese hält gemäss Statistik bei vielen nicht sehr lange - der Wert “bis dass der Tod uns scheidet” gilt also nicht mehr unbedingt - aber dafür werden umso bombastischere Hochzeiten gefeiert! Und genau dieses Zelebrieren und Glorifizieren macht es am Ende für niemanden einfacher. Nicht für die überforderte Mutter, die niemals zugeben würde, dass sie sich das alles ganz anders vorgestellt hat. Nein, sie liebt ja ihre Kinder und möchte nichts, aber ganzundgarnichts anders haben, als es ist! Am allerwenigsten hilft dies jedoch am Ende uns ungewollt Kinderlosen, die wir dieses wunderbar in Szene gesetzte Glück der Mutterschaft nie erreichen werden. Aber: es ist natürlich toll für die Wirtschaft. Für Fotografen, Medien, Partyzubehör-Online-Shops, Spielwarenhändler und andere mehr. Und die pushen das Ganze gerne immer noch ein Stückchen weiter. Zum Beispiel in der Werbung. Da kann man auch wunderbar mit Sehnsüchten und Wünschen spielen, das ist toll (wir erinnern uns an die Weihnachtswerbung). Den Markt dafür gibt es, und er ist nicht klein!

Welchen Schluss ziehen wir daraus?

Trau dem Schein nicht. Denn am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen mit menschlichen Bedürfnissen und Problemen. Egal, ob wir nun Mütter sind oder nicht. Manche sind von Herzen Mutter und nichts lieber als das. Andere lieben wohl ihre Kinder, aber das Mutter-Sein ist ein täglicher Kampf. Das habe ich nicht selber erfunden: eine liebe Freundin von mir erlebt das Mutter-Sein so. Und dann gibt es da auch noch uns, die wir keine Mütter sind, obwohl wir es gern wären.

Ob unser Leben ein gutes wird, liegt zu einem sehr grossen Teil in unserer Verantwortung. Nicht an der Tatsache, ob alle unsere Wünsche wahr geworden sind oder nicht. Denn ich kenne zum Beispiel eine Kinderwunschfrau, die tatsächlich am Ende Mutter geworden ist, nach vielen Tränen und Spritzen, und der ich dann bei einem Besuch anmerken musste, dass sie trotz allem nicht wirklich glücklicher ist. Sie hat bloss andere Probleme als vorher. Was mich dann meinerseits ein Stück weit “geheilt” hat von der Vorstellung, wenn ich bloss Kinder hätte, dann wäre alles gut. So funktioniert das nicht. Ich war einem Trugbild aufgesessen.

Was haltet Ihr von diesem Thema? Gibt es den Kult der Mutterschaft? Oder findet Ihr diese Theorie übertrieben?

Foto: Elaine

Elaine

lebt in der Schweiz. Sie liebt die Natur, besonders im Frühling. Sie mag Spaziergänge, Wanderungen, die Berge, das Meer, Bücher, Kunst, Flohmärkte, Brockenhäuser.

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