Brief an den November
von Elaine, über Leben, Atelier, Sinn, Selbstfürsorge, Musik

Lieber November,
um ehrlich zu sein, mochte ich dich viele Jahre lang nicht. Deine Dunkelheit, das Grau, den Jahresendstress. Die Müdigkeit der kürzeren Tage, der ich aufgrund der Betriebsamkeit unserer Gesellschaft nicht nachgeben konnte. Und in schwierigeren Jahren das Wissen, dass die Feiertage bevorstanden, die ich doch am liebsten übersprungen hätte.
Das ist jetzt anders. Du verlangst mir weniger ab als auch schon. Was daran liegt, dass die Höhepunkte meiner Erwerbstätigkeit im Februar, Mai, Juni, August und September liegen. So lerne ich dich, November, von einer ganz neuen Seite kennen.
Da ist die Ruhe der Natur. Wie die Kraft der Pflanzen sich zurückzieht in die Wurzeln. Instinktiv möchte ich es ihnen gleichtun. In die Tiefe gehen. Stabilität suchen. Nun bin ich gerne daheim, zünde Kerzen an, koche Suppen und Eintöpfe. Das tat ich schon immer, aber mit deutlich mehr Druck im Aussen. Jetzt kann ich mir sogar ein paar Tage frei nehmen, da ich noch so viele Ferientage übrig habe. Meine Schwestern besuchen. Daheim mein in mehreren Räumen verteiltes Kunstmaterial ordnen und neu einräumen. Und mir seit langem wieder mal einen Massagetermin gönnen :-).
November – was ich gerade besonders an dir mag, ist dein Versprechen, dass das Jahr bald vorüber ist. 2025 verbinde ich mit einer Häufung von Verlusten. Mit Menschen, die aus meinem Leben verschwunden sind, teils durch die Endgültigkeit des Todes, aber auch auf andere Weise, die nicht weniger schmerzt.
Im 2025 geriet die Identität, die ich im Abschied vom Kinderwunsch aufgebaut hatte, ins Wanken. Die Frage nach dem Sinn stellte sich neu, nachdem ich geglaubt hatte, die Antwort darauf gefunden zu haben. Und doch fielen im Herbst erste Puzzleteilchen wieder an ihren Platz. Dafür bin ich dankbar.
Der Zwischenstand? Doch wieder recht versöhnlich. Menschen sind aus meinem Leben verschwunden, doch neue sind darin aufgetaucht. Im Oktober löste sich manch ein innerer Knoten und die Inspiration floss seit vielen Monaten wieder ungehindert. Mein kleines Ideenbuch ist voll von Notizen. Ich habe zudem Neues ausprobiert: Acrylgouache, Gelplattendruck, das Herstellen eines Büchleins aus einer Papiereinkaufstasche. Dieses Jahr war ich weniger fokussiert als geplant, zumindest im Atelierteil meines Lebens. Eine Weile lang galt es dort Schwieriges auszuhalten, was mich ziemlich ausbremste. Ich bin froh, dass ich seit einigen Wochen wieder das alte, unbeschwerte Gefühl verspüre, wenn ich an diesen Ort zurückkehre.
Der Freude zu folgen, war wichtiger als das Hin-Arbeiten auf etwas Grösseres. Dadurch sind einige Ziele etwas weiter weg gerückt. Nachsicht mir selbst gegenüber – das ist etwas, was ich den letzten zehn Jahren und dem Abschied vom Kinderwunsch verdanke. Früher wäre ich unzufrieden mit mir gewesen. Heute sehe ich es als Erfolg, wenn ich es einigermassen schaffe, mir in struppigen Zeiten Sorge zu tragen.
Mit in die dunkleren Tage nehme ich einen Rucksack voller Herbstgenuss, bunter Farben, Apfelduft, Feierabendspaziergänge. Als Neuentdeckung die Musik von Bruno Major, Swallows and Crows sowie diese Herbst-Playlist. Und eine kleine Morgenroutine, die mir Energie und gute Laune gibt. Die erforderlichen fünf Minuten kann ich mir an den meisten Tagen nehmen.
Was meinst du, lieber November? Werden wir vielleicht doch noch Freunde?
Foto: Elaine
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