Päckchen
von Elaine, über Gesellschaft, Ungewollte Kinderlosigkeit
Im Juni verstarb ein Freund aus Jugendtagen. Dies fiel ausgerechnet in die intensivste Phase des Jahres, so dass ich bis kurz vorher nicht wusste, ob ich an der Trauerfeier teilnehmen sollte oder nicht. Meine Befürchtung war, dass es ähnlich wie bei Klassentreffen ins Vergleichen münden würde. “Hast du Kinder?” ist dabei eine unvermeidliche Frage. Am Ende beschloss ich hinzugehen, obwohl ich dafür insgesamt vier Stunden Fahrt auf mich nehmen musste. Um zu ehren, was den Verstorbenen und mich in alten Zeiten verbunden hatte. Und ich sollte es nicht bereuen, auch wenn es sehr emotional wurde.
Ich traf Menschen wieder, die ich zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte. In der Kirche setzte ich mich neben M., mit dem ich damals gut befreundet gewesen war. Sofort kam die Frage: “Bambini?” (Kinder?). “Nein, leider nicht”, antwortete ich. “Und du?” fragte ich zurück. “Zwei”, antwortete er. Und dann erzählte er mir in den wenigen Minuten, bevor der Trauergottesdienst begann, dass sein ältester Sohn auf dem autistischen Spektrum sei. Wenn er überfordert sei, werde er gewalttätig. Mutter und Schwester seien traumatisiert, und der Sohn selbst habe für zwei Jahre in eine spezialisierte Institution ziehen müssen.
“Das tut mir leid”, sagte ich. “Das hast du dir bestimmt anders vorgestellt. Bei mir kam es auch anders als gedacht, wir hätten gerne Kinder gehabt.” Da zuckte er mit den Schultern und meinte: “Jeder trägt sein Päckchen”.
Viel mehr sprachen wir an dem Tag nicht miteinander, aber es war ein Satz, den ich mit nach Hause nehmen sollte. Nach der Trauerfeier sah ich viele bekannte Gesichter im Restaurant wieder. Scheidungen, Trennungen, psychische und andere Erkrankungen, ungewollte Kinderlosigkeit (ich bin nicht die einzige!) – das alles begegnete mir in diesen Stunden. Ich fand niemanden, der damit prahlte, wie rund und toll sein Leben lief.
Früher hatte ich mich oft isoliert gefühlt. Weil ich um die Kinder trauerte, die ich nie haben würde, während sich alle anderen im Babyglück zu sonnen schienen. Inzwischen weiss ich erstens, dass der Schein wohl damals schon trügte. Und zweitens kann ich, nachdem meine Verluste grösstenteils verarbeitet sind, die Gemeinsamkeiten entdecken. Das Leid tritt in verschiedenen Formen auf. Ich habe es nicht für mich gepachtet. Und am Ende verbindet dies irgendwie.
Foto: Elaine
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