Da sein
von Elaine, über Trauer, Leben
Obwohl es Frühling ist und die Tage spürbar länger werden, obwohl wir teilweise mit Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen bis zu 27 Grad verwöhnt wurden, brannten bei mir in letzter Zeit immer mal wieder Kerzen.
Das Grösste, was Freunde und Angehörige für Trauernde tun können, ist für sie da zu sein. Zuzuhören, mit auszuhalten. Nicht viele können das wirklich. Das musste ich im Abschied vom Kinderwunsch am eigenen Leib erfahren, und darüber habe ich hier auch schon einiges geschrieben.
Nun habe ich die Gelegenheit, mich in genau dem zu üben. Für eine Freundin da zu sein, die ihr Kind, 9 Jahre alt, bei einem tragischen Unfall verloren hat.
Worte gibt es keine. Nur dürftige Annäherungen, die kaum richtig passen. Wir können umarmen, lang und fest. Helfen, wenn Hilfe gefragt ist. Einen Abend lang dasitzen und zuhören. Pizza mitbringen. Am Text für die Traueranzeige feilen. Stundenlang gemeinsam Fotos durchforsten und die richtigen aussuchen für die PowerPoint-Präsentation an der Trauerfeier. Gemeinsam lachen und weinen. Eine warme Mahlzeit kochen und vorbeibringen.
Meine Freundin meinte, dass die Präsenz derjenigen Menschen für sie am wohltuendsten sei, die die Trauer aus eigener Erfahrung kennen. Eine gemeinsame Freundin von uns verlor in den Mittzwanzigern ihre Schwester. Eine Bekannte verlor ihr Kind und arbeitet heute als Trauerbegleiterin. Das sind die Menschen, die die Hinterbliebenen jetzt gern um sich haben. Meine Freundin schloss mich in diese Beschreibung mit ein, was für mich irgendwie tröstlich war. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass es mir das Gefühl gibt, dass mein eigenes Leid, mein eigener Verlust nicht ganz umsonst war.
Zurück zu den Kerzen. Meine Freundin war spontan bei uns zum Abendessen. Wir versuchten, technische Probleme zu lösen, weil die Fotos ihrer Tochter unsortiert auf verschiedenen alten und neuen Geräten lagen und es gar nicht so einfach war, diese an einem Ort zusammenzutragen. Um 21 Uhr ging sie nach Hause zu ihrem Mann und ihren anderen beiden Kindern. Ich war erschöpft. Zündete Kerzen an, setzte mich im Halbdunkel aufs Sofa und gab der Trauer Raum.
Sie sei trotz allem dankbar, sagte meine Freundin. Dankar dafür, die knapp zehn Jahre mit ihrer Tochter gehabt zu haben. Sie war ein fröhliches, verspieltes Kind. Meine Freundin gab mir zu verstehen, dass sie sich durchaus dessen bewusst ist, dass ich nie ein Kind haben konnte. Ich fühlte mich verstanden und gesehen und ich glaube, sie sich auch.
Die Trauer.
Sie kostet Kraft, immer.
Aber sie macht mir so viel weniger Angst als noch vor neun Jahren.
Diese Furchtlosigkeit ist jetzt eine Ressource.
Für meine Freundin, ihre Familie und mich.
Neun Jahre.
So lange ist es her seit unserer “Linie im Sand”.
Auch das ist kaum zu fassen.
Foto: Elaine
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