Elaine ohne Kind

Über den Abschied vom Kinderwunsch und das Leben danach

Mittwoch

2

August 2023

Leitplanken

von Elaine, über Ungewollte Kinderlosigkeit, Abschied vom Kinderwunsch, Trauer, Gesellschaft

Da der Abschied vom Kinderwunsch mit einem “uneindeutigen Verlust” verbunden ist, gibt es dafür keine gesellschaftlichen Vorgaben. In vielen Fällen keine Beerdigung, keine Blumen, keine Beileidskarten. Ungewollt Kinderlose bleiben quasi unsichtbar. Ihre Trauer jedoch ist deswegen nicht weniger real.

Ich stiess damals in meinem Umfeld auf eine grosse Hilflosigkeit. Ich spürte, dass die Menschen sich sehr wohl bewusst waren, wie schwierig meine Situation war. Aber ihnen fehlten ein paar “Leitplanken” – sie wussten schlicht nicht, wie sie sich verhalten, was sie sagen sollten.

Was also kann das Umfeld in solchen Situationen tun? Ich habe mal versucht, ein paar Punkte zusammenzutragen. Zum Teil stütze ich mich auf die Übersetzung eines englischen Textes von Sarah Chamberlin, vor allem aber auch auf meinen eigenen Erfahrungen der letzten Jahre.


Liebe Freunde und Angehörige,

wenn Ihr das lest, dann ist das etwas ganz Wunderbares. Es zeigt, dass Euch das Wohl der ungewollt kinderlosen Menschen in Eurem Umfeld am Herzen liegt. Dass Ihr Euch der Herausforderung stellt, Euch “weiterzubilden”, um diesem uneindeutigen Verlust angemessen zu begegnen. DANKE an dieser Stelle dafür! Wir ungewollt Kinderlosen schätzen das sehr.

1. Sprachlosigkeit ist okay

Wenn jemand aus dem Umfeld zu mir in meiner Trauer als Kinderlose sagt: “Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll”, dann ist das eine Anerkennung der Schwierigkeit der Situation und in dem Sinne, so seltsam das klingen mag, für mich durchaus passend.

Folgendes könnte man sonst noch sagen: “Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst.” Oder “Das muss sehr schwierig sein.” Oder “Gibt es etwas, was ich für dich tun kann, was dich unterstützen würde?”

2. Lieber keine Floskeln

“Es gibt Schlimmeres” oder “Alles hat seine Zeit”. Das mag theoretisch wahr sein, hilft aber im Moment der tiefen Trauer nicht. Vermutlich macht es die trauernde Person eher wütend oder wirkt trennend auf Eure Beziehung. Sätze, die mit “Wenigstens hast du…” oder “Immerhin bist du…” beginnen, sind oft gut gemeint, anerkennen jedoch das Leid nicht, dass die Person durchmacht. Und gerade diese Anerkennung ist sehr wichtig!

Faustregel:
Überlegen, ob man das zu einer Person sagen würde, die einen geliebten Menschen verloren hat. Wenn nicht, dann passt es auch im Abschied vom Kinderwunsch nicht.

3. Präsenz oder Lösungsvorschläge?

Das Aushalten der Not einer geliebten Person ist etwas vom Schwierigsten. Natürlich möchte man helfen, möchte die Not lindern, möchte trösten.

Grundsätzlich kann es hilfreich sein, die trauernde Person zu fragen, was ihr Bedürfnis ist. Möchte sie in den Arm genommen werden? Wünscht sie sich etwas Ablenkung? Wäre sie froh, wenn Ihr mal gemeinsam weggeht? Würde es helfen, wenn man mal für sie kocht? Oder wäre es gerade der grösste Liebesbeweis, zusammen zu weinen?

Man kann auch fragen, ob die Person möchte, dass man hilft, eine Lösung zu finden. In dem Fall ist die Person vielleicht auch offen für Eure Meinung oder Euren Rat. Meistens aber (seid gewarnt) eher nicht!

4. Ratschläge sind auch Schläge

Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Menschen mich im Laufe der Jahre gefragt haben: “Habt Ihr schon daran gedacht zu adoptieren?” Das fragen gerne auch Menschen, die mich kaum kennen.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass eine ungewollt kinderlose Person zu dem Zeitpunkt, wenn sie kommuniziert, dass sie keine Kinder bekommen kann, alle Optionen wie Kinderwunschbehandlung, Adoption oder Pflegekinder sorgfältig in Erwägung gezogen hat. Vielleicht hat sie die eine oder andere Option sogar in Angriff genommen und es hat nicht geklappt. Denn so einfach, wie man sich das häufig vorstellt, ist es nicht!

Es ist heutzutage nicht mehr so leicht zu adoptieren. In der Schweiz werden Kinder (zum Glück) nicht mehr so häufig von ihren Eltern getrennt wie früher. Die meisten ungewollten Kinder kommen hierzulande gar nicht mehr auf die Welt. Ähnliches gilt für unsere Nachbarländer. Ein Kind innerhalb Europas adoptieren zu können, ist also relativ unwahrscheinlich. Und eine Adoption von einem anderen Kontinent birgt gewisse Risiken, vor allem aufgrund des Wohlstandsgefälles. Wer adoptieren möchte, lässt sich in den meisten Fällen auf einen jahrelangen Warteprozess mit ungewissem Ausgang ein. Nicht alle Paare haben dafür die Kraft. Und das Geld. Da die Kriterien für die Adoption relativ streng sind, kann es auch sein, dass sie bereits zu alt dafür sind.

In sämtlichen Fällen handelt es sich nicht um leichtfertige Entscheidungen. Dazu gehören unzählige schwierige Gespräche zwischen Mann und Frau. Vielleicht hat das Paar bereits jahrelange Behandlungen hinter sich und ist dadurch an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt. Folglich ist die wohl angemessenste Reaktion auf die Tatsache, dass jemand kinderlos ist, vor allem Respekt.

5. Entspannt Euch mal…

Das ist der grosse Klassiker, den ich mir selbst mit 44 (!) noch anhören durfte, obwohl mein Mann und ich längst nicht mehr aktiv versuchen schwanger zu werden. Alle wissen es besser. Jeder (vor allem diejenigen, die das Glück hatten, problemlos schwanger zu werden) weiss, “wie’s geht”.

Es gibt vielerlei medizinische Gründe für die ungewollte Kinderlosigkeit. Studien zeigen beispielsweise, dass es um die Spermienqualität der Schweizer Rekruten ziemlich schlecht bestellt ist. Zudem leiden etwa 10% der Frauen unter Endometriose. Und das sind nur zwei Beispiele.

Man sollte also vorsichtig sein mit Vorschlägen wie “Fahrt mal in die Ferien” und Ähnlichem. Das ist in Anbetracht möglicher medizinischer Diagnosen deplatziert. Man kann ohnehin davon ausgehen, dass die ungewollt kinderlose Person in der aktiven Kinderwunschzeit immer mal wieder im Urlaub war. Alles andere ist unwahrscheinlich.

6. Die Medizin

Die Vorstellung, man könne eine Kinderwunschklinik betreten und würde sie garantiert mit einem Baby im Arm wieder verlassen, ist erstaunlich weit verbreitet. In Wirklichkeit sind die Erfolgsraten der Reproduktionsmedizin leider nicht sehr hoch. Und die Belastung, die ein Paar in der Kinderwunschbehandlung auf sich nimmt, ähnlich gross wie bei einer Krebstherapie. Ich persönlich habe seit meiner OP und Kinderwunschbehandlung in den Jahren 2014 und 2015 chronische Schlafprobleme und vertrage weder Milch noch Weizen. Das klingt nicht nach viel, ist aber in unserem Kulturkreis relativ einschneidend. Milchprodukte und Weizen sind fast überall drin!

Man sollte also von unbedachten Äusserungen wie “Heutzutage muss man doch nicht mehr kinderlos bleiben” absehen. Es gibt nach wie vor keine Garantie für ein Kind, selbst mit medizinischer Unterstützung nicht. Und wenn ein Paar beschliesst, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es klappt, in seinem spezifischen Fall schlicht zu klein ist (eine gute Klinik legt diese Zahlen meist offen) oder dass die Kräfte bzw. das Budget dafür nicht reichen würden, verdient auch das Respekt.

7. Was gut tut

Was kann das Umfeld also tun? Ich schreibe mal die Dinge auf, die mir persönlich gut getan haben:

  • Anerkennung dafür, dass es schwierig sein muss. Respekt vor der Kraft, die die trauernde Person gerade aufbringt, um den Alltag zu bewältigen.

  • Blumen. Oder eine Karte. Ein kleines Zeichen, dass Ihr an die trauernde Person denkt. Es muss nicht viel draufstehen. Auch keine grosse Weisheit. Das Zeichen zählt. Und die Liebe.

  • Mit einbeziehen in Gesprächen und bei Anlässen. Häufig fühlen ungewollt Kinderlose sich aussen vor. Sie können nichts zu Kinder- und Erziehungsthemen beitragen oder werden an manche Orte gar nicht erst eingeladen. Hier kann es eine gute Idee sein, die Person zu fragen, ob sie dabei sein möchte. In Gesprächsrunden ist es rücksichtsvoll, das Thema bewusst mal zu wechseln hin zu Nicht-Kinder-Themen.

  • Verabredungen ohne Kinder: Wenn man ungewollt kinderlos bleibt, kann die Konfrontation mit dem Kinderglück der anderen unheimlich viel Kraft kosten. Daher schätzte ich es sehr, dass meine Schwester und ihr Mann zwei- oder dreimal einen Babysitter engagierten, damit wir zu viert essen gehen konnten. Das klingt nicht so wahnsinnig schwierig, war aber eine Ausnahme in unserem Umfeld – und daher umso wertvoller.

  • Beim Versand von Geburtsanzeigen: fragen, ob die Person überhaupt eine möchte. Das ungefragte Bombardement mit Geburtsanzeigen war für mich damals sehr schmerzhaft. Das Rücksichtsvollste, was eine frischgebackene Mutter mir gegenüber mal gemacht hat: Sie fragte mich zuerst. Dann verwendete sie zwei Umschläge. Die Geburtsanzeige im inneren Umschlag, dann eine kleine Karte mit persönlichen Worten dazu und einen zweiten Umschlag ums Ganze. Das fand ich sehr aufmerksam! Ich fühlte mich von ihr in meiner Trauer gesehen.

  • Falls die Trauernden ein Abschiedsritual durchführen möchten, ist es wunderbar, wenn Ihr sie dabei unterstützt. Ideen sind: einen Baum pflanzen, ein Feuer anzünden oder etwas an das Wasser übergeben. Es gibt kein Richtig und Falsch, nur das, was für das Paar stimmig ist. Hier berichtete ich von unserem persönlichen Abschiedsritual.

8. Der weitere Weg

Der Trauerprozess des Abschieds vom Kinderwunsch kann mehrere Jahre dauern. Hier ist Geduld gefragt, denn die ungewollte Kinderlosigkeit beinflusst gerade für die Frau jeden einzelnen Lebensbereich: den Körper, die Psyche, den Intellekt, die Arbeitssituation und auch die sozialen Interaktionen.

Die trauernde Person wird Zeit brauchen, wird sich evtl. zeitweise zurückziehen wollen und sich vielleicht irgendwann neu orientieren. Es kann sein, dass sie sich weiterbildet und beruflich neue Wege einschlägt. Oder dass sie sich ehrenamtlich engagiert in einem Bereich, den sie als sinnvoll betrachtet. Ich persönlich habe mich der Kunst und Kreativität zugewandt. Das wird aber für jeden etwas anders aussehen.

Im Abschied vom Kinderwunsch geht es viel um Sinn- und Identitätsfragen. Diese lassen sich nicht in wenigen Minuten abhaken. Sobald eine ungewollt kinderlose Person ein neues Ziel gefunden hat, ist es jedoch wunderbar, wenn das Umfeld sie dabei unterstützt!

Achtung: Komplett “darüber hinweg” wird eine ungewollt kinderlose Person vermutlich nie sein. Es wird immer wieder Triggerpunkte geben, Momente, die die Trauer um die Kinder, die sie nie haben wird, erneut auslösen, selbst wenn die akuteste Trauerphase überstanden ist.

Muttertag und Weihnachten sind natürlich die Klassiker. Die ungeborenen Kinder der Kinderlosen wachsen jedoch auch mit den Kindern im Umfeld mit. Das heisst, Geburtstage, Einschulung, Konfirmation, Schulabschlüsse, Hochzeiten etc. sind gleichzeitig auch Erinnerungen an das, was einem selbst verwehrt geblieben ist. Wenn das Umfeld dafür etwas Verständnis hat, kann das helfen.

9. Aushalten und zuhören

Was war für mich rückblickend am wertvollsten? Wenn liebe Menschen es schafften, das Schwierige zusammen mit mir auszuhalten. Wenn sie es nicht minimieren, wegerklären, “flicken” oder schönreden wollten. Wenn sie ein offenes Ohr hatten für mich. Und mich ertrugen mit meinem Schmerz. Das ist nicht leicht, ich weiss. Deshalb würde ich zusammenfassend sagen: das grösste Geschenk einer nahestehenden Person an ungewollt Kinderlose ist Präsenz. Zuhören. Und Geduld.

Wenn Ihr bis hierhin gelesen habt:
DANKE dafür. In meinem Namen und im Namen aller ungewollt Kinderlosen <3.


PS: Ergänzungen in den Kommentaren sind herzlich willkommen!

Foto: Elaine

Elaine

lebt in der Schweiz. Sie liebt die Natur, besonders im Frühling. Sie mag Spaziergänge, Wanderungen, die Berge, das Meer, Bücher, Kunst, Flohmärkte, Brockenhäuser.

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